LARIFARI
Fremd
Fremd ist zunächst ein Wort. Ein Wort, dass etwas beschreibt, was mir nicht geläufig ist, nicht vertraut, dass
außerhalb meines Alltags stattfindet und mit dem ich selten oder nie konfrontiert werde. Das können
Menschen sein, Rituale, Essen, Gebräuche, Traditionen oder Umgangsformen. Wie man mit dem Fremden
umgeht, muss jeder für sich allein entscheiden. Ob er es annimmt, wenn es ihm begegnet, oder ablehnt. Ich
selbst bin in dieser Beziehung recht offen und lasse mich selten von Vorurteilen oder Erfahrungen anderer
leiten. Ich möchte selbst entscheiden dürfen, ob mir etwas gefällt, oder nicht, ob ich mich dafür öffne, oder fern
bleibe.
Ich selbst bin ein Fremder. Für viele, denen ich begegne. Ich bin zudem ein Ausländer. Überall auf der Welt.
Auch entspreche ich keinem Klischee eines typisch Deutschen. Ich trinke kein Bier, bzw in den letzten Jahren
grundsätzlich keinen Alkohol und ich habe keinerlei Beziehung zum Fußball, weil ich diesen Sport, wie die
meisten anderen Sportarten, die den Deutschen lieb sind, einfach nur ermüdend langweilig finde. Auch kann
ich keine besonders ausgeprägte Beziehung zu meinem Auto aufbauen. Es muss fahren, mich von A nach B
bringen und mir den Platz bieten, damit Urlaubsfahrten und Transporte möglich sind. Deutschen Automarken
kann ich im Allgemeinen nichts abgewinnen, weil ich sie nicht wirklich schön finde und zudem weit überteuert.
Was sind überhaupt deutsche Werte, oder Traditionen, mit denen ich mich verbunden fühle? Ich kann es kaum
beschreiben. Diese typisch deutsche Ordnung, Disziplin und Pedanterie gehen mir eher auf den Keks, genauso
wie die Bürokratie. Und dass der Deutsche gern Regeln folgen möchte, kann ich mir auch nicht auf die Fahne
schreiben. Genauso wenig kann ich mit dem Großteil der Bräuche christlicher Traditionen etwas anfangen. Es sind halt Tage, an denen ich frei bekomme. Einen
direkten Bezug dazu, habe ich nicht. Deutsches Essen finde ich ganz o.k., aber es gibt genügend andere Gerichte auf der Welt, die ich auch sehr lecker finde.
Was ich jedoch sagen kann, ich bin froh in Deutschland zu leben und in diese Zeit hinein geboren zu sein. Das war Glück und Zufall, wie bei jedem anderen
Menschen auf der Welt auch. Kein Verdienst. Ich lebe in einem freien Land, in dem es mir an nichts mangelt. Ich kann sagen und schreiben, was ich möchte,
habe eine anständige Bildung erhalten und kann mich darauf verlassen, dass mir ein vernünftiges Gesundheitswesen zur Verfügung steht, sollte ich erkranken.
Ebenso werde ich sozial aufgefangen und werde Unterstützung erhalten, falls ich Hilfe benötige. Das können nur wenige Menschen auf dieser Welt erwarten.
Selbst in Europa gibt es Staaten, wo solche sozialen Auffangmechanismen nicht existieren. Wir sehen es als Selbstverständnis.
Lustig finde ich, wie man uns in anderen Ländern sieht und worauf man uns Deutsche reduziert. Das beste Beispiel dafür lieferte der Epcot Themen Park in
Florida, der zu den Walt Disney World Resorts gehört. Ich besuchte ihn bereits zwei Mal. Im sogenannten World Showcase gibt es unterschiedliche Areale mit
Pavillons, die einem typische Merkmale verschiedener Nationen näher bringen sollen. Japan, Marokko, China, Kanada, Frankreich, Mexico und einige weitere
Länder stellt man hier in Architektur, Kleidung und Speisen dar. Der deutsche Bereich sah von den Bauwerken her eher nach einer beliebigen europäischen
Kleinstadt aus, die aus dem Mittelalter stammte. Es hätte genauso gut nach England gepasst. Die Angestellten liefen in bayrischer Tracht herum, zu Essen gab es
Nürnberger mit Sauerkraut und Bier und in den kleinen Geschäften konnte man Kuckucksuhren und deutschen Wein erwerben. Ich fühlte mich hier mehr als
fremd.
Meine Eltern lehrten mich Toleranz, Unvoreingenommenheit und Respekt. Bereits im frühen Kindergartenalter kam ich mit Menschen anderer Nationen in
Kontakt. Ich lernte und erlebte, dass es Unterschiede zu ihnen gibt. Aber Hautfarbe und Herkunft spielten dabei nie eine Rolle. Diese Begegnungen haben mich
eher neugierig gemacht. Leben sie anders als wir Deutsche? Essen sie anders? Was denken sie über unser Land, über uns? Was ist ihnen befremdlich? Was ist
mir überhaupt fremd?
Die Begegnung mit dem Fremden zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Nicht allein durch meine Urlaubsreisen lernte ich andere Kulturen, fremdes
Essen und Menschen kennen, sondern auch durch mein Privat- und Arbeitumfeld. Ich habe viele Zeitgenossen getroffen, mit denen ich mich intensiv
austauschen konnte. Ein Teil meiner Familie lebt zudem in Amerika, ich habe auch Freunde dort. Daher sehe und höre ich, wie unterschiedlich wir leben, obwohl
wir aus einem ähnlichen Kulturkreis kommen. Ich habe auch einige Jahre mitten im Herzen von Kreuzberg gearbeitet. Auch das hat meinen Horizont extrem
erweitert. Vor allem durch meine beiden Kollegen mit türkischen Wurzeln und den vielen Kunden, die aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen stammten. Sie
waren alle eine große Hilfe, kulturelle und religiöse Hintergründe zu erfassen und zu verstehen. Ich habe Künstler aus dem Irak, aus dem Iran und Russland
kennengelernt und mit ihnen musiziert. Es waren viele Begegnungen. All das hat mich geprägt und weltoffener gemacht. Und dafür bin ich dankbar.
Pionierrepublik am Werbellinsee
Eine der Höhepunkte meiner Jugend war der mehrmalige Besuch des Internationalen Sommerlagers in der sogenannten "Pionierrepublik Wilhelm Pieck" am
Werbellinsee. Einem Camp, dass nach russischem Vorbild gebaut und konzipiert wurde. Es wurde das ganze Jahr genutzt und nur die besten Schüler und
Pioniere hatten die Möglichkeit für einige Wochen hier Zeit zu verbringen. Das Areal besaß mehr als 3 Quadratkilometer und hatte einen eher dörflichen oder
kleinstädtischen Charakter, unterteilt in 2 Camps mit festen Steinhäusern und einem dritten, einfachen Bungalowdorf. Der gesamte Komplex lag direkt am See
besaß ein Strandbad, eine Schule, Sport- und Freizeitanlagen und eine große Waldfläche zum Erkunden und Wandern. Als ausserordentliche Ehre und
Auszeichnung galt eine Einladung für das Internationale Sommerlager im Juli und August eines jeden Jahres. Die Plätze waren begehrt und äußerst begrenzt.
Abgesehen von der DDR-Führung, die ihre Kinder wie selbstverständlich im Sommercamp unterbrachte, mussten alle anderen eher große Erfolge in der Schule
erzielen, um berücksichtigt zu werden.
Das Sommerlager war ein absolutes Highlight. Regelmäßig war das DDR-Fernsehen vor Ort, um zu berichten, oder Kindersendungen zu produzieren. Die
Staatsführung wollte sich nach außen hin international geben und lud Kinder aus vielen Nationen ein, hier ihre Ferien zu verbringen. Im Schnitt hingen 40 bis 50
verschiedene Flaggen an den Fahnenmasten. Darunter nicht nur Gruppen aus dem sozialistischen Ausland, sondern auch zahlreiche aus Westeuropa, Asien,
Afrika und den USA. Um den Schein zu wahren, fehlte es uns dort an nichts. Wir bekamen täglich Apfelsinen, Bananen und andere selten in der DDR erhältliche
Lebensmittel. Selbst Stieleis für 50 Pfennig am Strand. Für uns DDR-Kinder war dies recht befremdlich.
Ich musste mir diese Ehre, dort einen Teil meiner Sommerferien zu verbringen glücklicherweise nicht verdienen. Denn, obwohl ich meist gute Noten nach Hause
brachte, dafür hätte es ganz sicher nicht gereicht. Die Organisatoren luden nicht nur ihre Gäste ein, ließen sie zum Teil sogar einfliegen, sondern sorgten mit viel
Aufwand dafür, dass die Menge aus aller Welt unterhalten wurde. Somit wurde das Bungalowdorf zum Kulturdorf. Tanzgruppen, Orchester, Theater und
Singegruppen aus der ganzen Republik durften im zwei-Wochen-Rhythmus dort ihr Lager aufschlagen. Publikum gab es ausreichend. Ich spielte zu jener Zeit in
einem Kinder-Theater mit und unsere Theaterleiterin hatte ganz gute Kontakte zu den Organisatoren.
Nun waren wir hier. Meine Theatergruppe und ich . Zwei Sommer hintereinander. Hier trafen wir auf die unterschiedlichsten Sprachen, Mentalitäten und
Hautfarben. Nicht nur während unserer Theateraufführungen, sondern auch privat in unserer Freizeit. Verstanden hat man sich. Auch, wenn man nicht die
gleiche Sprache beherrschte. Man tauschte sich aus. Mit Händen und Füßen, mit Zeichnungen und wenn es ins Detail gehen sollte, durchaus auch mit
Unterstützung der Betreuer, die meist auch die Dolmetscher waren. Manche Treffen waren kurz, wenn wir Gäste einluden, unser Theaterstück zu besuchen und
andere dauerten länger, weil das Interesse beider Seiten füreinander groß war. Diese Begegnungen habe ich noch heute noch sehr gut im Gedächtnis, wenn ich
zurück denke. Es sind glückliche, stolze, nachdenkliche aber auch traurige Gedanken. Wir hatten zum Teil Publikum, die noch nie in ihrem Leben ein
Theaterstück gesehen haben. Wir lernten Kinder kennen, die mit der einzigen Kleidung, die sie besaßen und am Laibe trugen, anreisten. Wir trafen uns mit
Kindern aus Westdeutschland und Österreich am Strand und sprachen lange miteinander. Wir trauerten im zweiten Jahr und waren entsetzt, als wir
mitbekamen, dass die Gruppe der palästinensischen Deligation aus dem Vorjahr auf ihrem Weg nach Haus einem Terroranschlag zum Opfer fiel. Wir bekamen
mit unserem Theaterstück, dass von Freundschaft und Zusammenhalt erzählte viel Zuspruch, Aufmerksamkeit und Dankbarkeit. Wir gaben Freude und lernten
dabei viel für´s Leben. Wir sahen Bräuche verschiedener Kulturen, hörten Erzählungen vom Leben und Alltag aus Ländern, die wir zu diesem Zeitpunkt nie
hätten bereisen können. Wir selbst wurden eingeladen, um uns austauschen zu können. Die vielen Eindrücke und Erlebnisse konnte man so schnell gar nicht
verarbeiten, wie sie auf uns einprasselten. Das brauchte seine Zeit. Und hier begann ich, mir ein Weltbild aufzubauen. Ein differenziertes. Zudem war uns allen
klar, wieviele Extreme hier aufeinander trafen: arm und reich, alle Weltreligionen, verschiedene Wirtschaftssysteme und Hautfarben, unterschiedliche
Bildungssysteme, sofern sie überhaupt vorhanden waren und Kulturen. Und am Ende haben all diese Unterschiede für uns im Umgang miteinander überhaupt
keine Rolle gespielt. Denn: Wir waren alle waren Kinder und hier, um friedlich miteinander eine schöne Zeit zu verbringen.
Fatima
Vor Jahren stellte meine Ma eine Haushaltshilfe ein. Sie hieß Fatima und floh mit ihrer Familie, ihrem Mann und 5 Kindern vor dem Krieg in Bosnien. Sie war
eine, lebenslustige, herzensgute Frau, Muslima und es machte Spass, sich mit ihr zu unterhalten. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihre Kinder in
einem friedlichen Land aufwuchsen, mit einer Perspektive für die Zukunft. Mit der Zeit freundete sie sich mit meiner Mutter an und beide Familien kamen
regelmäßig zusammen. Wir tauschten uns aus. Wie es ist, in Bosnien zu leben. Wir erfuhren vieles über Traditionen, wie man feiert, was im Gegensatz zu
Deutschland anders läuft. Um wieviel genügsamer die Menschen dort sind und welche Werte sie schätzen.
Wie oft hörten wir den Klang der Wehmut, wenn sie über ihr Land sprachen. Ihnen wurde durch den Krieg alles genommen. Der Besitz, ihr Haus, ihre Heimat.
Vieles war zerstört. Wie sehr sehnten sie sich während des Krieges nach Familienangehörigen, die blieben, nach Freunden, nach dem Vertrauten. Es war schwer,
als Fremder, als Aussenstehender das alles begreifen zu können. Wie es ist, plötzlich nicht mehr zu haben, als sich selbst. Fern von dem Vertrauten, fern der
eigenen Kultur und Sprache. Auch nach Beendigung der Konflikte wurde dort vieles nicht besser. Die Folgen und die Zerstörungen dieses Krieges wirkten Jahre
nach. In manche Gebiete konnte man nicht reisen, weil die Gefahr, durch Minen getötet zu werden zu hoch war. Und der Hass, der zwischen den ethnischen
Bevölkerungsgruppen all die Jahre geschürt wurde, ließ sich nicht von heute auf morgen abstellen. Zudem gab es kaum mehr Infrastruktur oder
Bildungseinrichtungen. Ich selbst weiß nicht, wie ich damit umgegangen wäre. Wie es wäre, wenn meine Heimat zerstört wird. Wie es wäre, in ein fremdes Land
flüchten zu müssen, weil ich um mein Leben bangen muss. Was, wenn man mir in diesem fremden Land irgendwann sagt "Der Konflikt in deinem Land ist
vorbei, du kannst wieder zurückgehen, es ist jetzt sicher" und ich hätte dort, wo ich herkam keinen Platz mehr, wohin ich gehen könnte.
Die Entscheidung hier in Deutschland zu bleiben, war für die Familie von Fatima sicher keine einfache. Aber sie wurde getroffen. Und sie taten alles, um hier
bleiben zu können. Dass ihre Kinder eine gute Schulausbildung bekamen, eine Berufsausbildung. Sie lebten mit dem Wissen und der Angst, dass sie eines Tages
durch die deutschen Behörden abgeschoben werden könnten. Sie bauten sich in Deutschland ein Leben auf, arbeiteten hart und knüpften Kontakte. Zu
Festtagen, wie dem Islamischen Opferfest, wurden auch wir mit Speisen bedacht und Fatima betonte immer wieder, wir seien Teil der Familie. Es war immer
eine Freude und ein großes Gewusel, wenn man sich traf. Aus gesundheitlichen Gründen musste Fatima eines Tages ihre Arbeit aufgeben. Sie kümmerte sich
nunmehr um die eigene Familie. Auch viele Jahre danach blieben wir verbunden und sahen uns. Um den Kontakt zu ihrem Geburtsland nicht gänzlich zu
verlieren, kauften sie sich irgendwann ein kleines Ferienhäuschen in der alten Heimat. Die Kinder wuchsen heran und entwickelten sich. Nun konnten auch sie
ins Land ihrer Vorfahren reisen, auch wenn es nur für einige Urlaubstage war. Mittlerweile sehen wir Fatimas Angehörige nur noch sehr selten. Ein schwerer
Schicksalsschlag ereilte sie. Fatimas gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich rapide. Sie starb mit Ende 40. Sie war die treibende Kraft, das Herz der
Familie, die alles zusammenhielt. Die, die Kontakte aufrecht erhielt und die, die das gute Gewissen war und Werte und Maßstäbe bestimmte. Seitdem ist nichts
mehr, wie es war. Sie wird uns fehlen.
Diese Begegnung führte uns vor Augen, was ein Krieg anrichten kann. Es waren nun nicht mehr nur die alten Geschichten und Erzählungen unserer
Verwandten, die von Zerstörung und Leid im Zweiten Weltkrieg berichteten, der lange her war. Es fand jetzt statt. Nicht weit von Deutschland. Mitten in Europa.
Etwas, was unsere Generation, wie zum Teil auch die unserer Eltern kaum begreifen kann, geschweige denn sich vorstellen. Daher kann ich immer noch schwer
verstehen, wie sich einige meiner Mitbürger gegenüber Kriegsflüchtlingen verhalten. Egal woher sie kommen.
Kirchen
Ich habe ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Kirchen. In Betrachtung als Bauwerk oder als Baukunst, besuche ich gern. Mit dem Christentum selbst, habe ich
wenige Berührungspunkte. Ich bin weder christlich erzogen worden, noch habe ich eine anderweitige Beziehung dazu. Wie wahrscheinlich ein Großteil meiner
Generation, der in der DDR aufgewachsen ist. Diese Kultur ist mir zwar nicht gänzlich fremd, sie wirkt jedoch in einigen Teilen ihres Auftretens veraltet und
befremdlich. Meine Urgroßeltern väterlicherseits stammten aus vorrangig katholisch geprägten Ländern. Mein Urgroßvater aus Polen und meine Urgroßmutter
aus Österreich. Sonntägliche Kirchengänge ihrerseits müssen selten gewesen sein. Und wenn, dann habe ich davon nicht viel mitbekommen. Erst als mein Opa
starb änderte sich dies. In der örtlichen katholischen Gemeinde fand für ihn ein Gedenkgottesdienst statt, an dem die gesamte Familie teilnahm. Wenige Tage
später wurde er beerdigt. Beide Ereignisse waren die unpersönlichsten, die ich jemals erlebt habe. Endlos zitierte der Pfarrer einschläfernd die Bibel und sprach
von Gott und dem Erlöser. Der Name meines Großvaters wurde vielleicht zwei Mal nebenbei erwähnt. Aber das war es dann auch. Zudem ging es am laufenden
Band hoch und nieder. Sitzen, aufstehen, sitzen, knien. Schon zu diesem Zeitpunkt war mir relativ klar, warum die meisten Kirchen außer zu Weihnachten
schlecht besucht werden. Es war langweilig, nicht im Geringsten feierlich, äußerst unpersönlich und fremd.
Nichts desto trotz erlebte ich auch eine der emotionalsten und eindrucksvollsten Momente meines Daseins in einer Kirche. Diese befand sich nicht in
Deutschland, sondern in der Amsterdam Avenue in Harlem, New York. Mein eigentliches Anliegen, einmal im Leben einen Gospelgottesdienst zu besuchen
wurde hier mehr als erfüllt. Es ging sogar weit darüber hinaus. Hier wurde eine Kultur gelebt, die ich mit Religion und schon gar nicht mit einer Kirche in
Verbindung gebracht hätte. Ich war völlig überwältigt und überfordert und brauchte einige Tage, diesen Besuch zu verarbeiten.
Der Gottesdienst selbst ging zirka drei Stunden. Ein Programmablauf inklusive der Songtexte lagen vor uns. Schon beim ersten Song hatte ich fast Tränen in den
Augen. Ich nahm an, dass der kleine Chor auf der leicht erhöhten Bühne die Lieder vortragen würde, die angesetzt waren. Aber weit gefehlt. Die gesamte
Gemeinde war der Chor. Das Kirchenhaus war bis in die hinteren Reihen voll besetzt. Die Stimmen, die um mich herum erklangen, hätten fast alle auf einer
großen Bühne stehen können. Mit einer Leidenschaft wurde diese Musik zelebriert, die man, hat man es nicht selbst erlebt, anderen kaum beschreiben kann.
Gänsehaut pur. Und ich hatte nen Kloß im Hals. Im Laufe des Gottesdienstes kamen immer wieder verschiedene Gemeindemitglieder auf die Bühne und trugen
ihre Anliegen vor. Von Informationen, was in nächster Zeit ansteht, wo angepackt werden muss, bis hin zur Verlesung der Zeugnisse der Jüngsten, die gerade
das Schuljahr abschlossen, war alles dabei. Der Pfarrer, Reverent Wilson, hatte dagegen nur zirka 15 Minuten. Er sprach in seiner Andacht von Liebe, von
Zusammenhalt und von Toleranz. Sein gestenreicher und sehr kluger Vortrag ließ mich fast vergessen, dass ich mich inmitten der Leute befand, die er ansprach.
Wäre nicht immer mal jemand neben mir oder in der Nähe aufgesprungen um sein Halleluja oder Amen gen Kanzel zu entgegnen, hätte ich mich gefühlt, wie in
einem Film. Die Musik, die Band und die Gospel waren großartig. Und dann kam unser Part, den wir nicht erwartet haben. Wir kamen als Neugierige, waren
fremd und eine der wenigen Weißen in dieser Kirche. Mitten in Harlem. Der Programmpunkt hieß "Begrüßung der Gäste". Als dann die Frage aufkam, wer genau
heute Gast ist, zog die nette Dame mittleren Alters neben uns die Aufmerksamkeit auf meine Familie und mich und zack – hatte ich ein Mikrofon in der Hand.
Wir waren nicht zu übersehen. Wer wir sind und woher wir kommen, wurde gefragt. Ich war ein wenig überfordert und beantwortete die Fragen stotternd. Dann
kamen die nächsten Gäste dran. Überraschend kamen nach dieser Vorstellung viele Gemeindemitglieder auf uns zu, schüttelten uns die Hände und hießen uns
in ihrer Runde willkommen. Vielen Dank, dass ihr zu uns gekommen seid. Wir freuen uns sehr. Danach standen noch einige Programmpunkte und Gospelsongs
an, bis der Gottesdienst beendet war. Wir wurden vom Reverent an der Eingangstür verabschiedet und man bedankte sich nochmal, dass wir anwesend waren.
Emotional völlig aufgeladen und beeindruckt verließen wir das Gotteshaus. Nach diesem Erlebnis brauchten wir erstmal eine ganze Weile, um uns zu sammeln.
Es war danach wochenlang Thema.
Wie ich bereits erwähnte, habe ich mit Religionen nicht viel am Hut. Aber ignorieren kann ich sie nicht. Ich spreche darüber, tausche mich mit Gläubigen der
unterschiedlichsten Gemeinschaften aus, frage nach. Es interessiert mich. Ich beschäftige mich mit ihnen, kenne Teile der Heiligen Schriften der Bibel, des
Korans und des Tanachs und war völlig überrascht, dass es so viele Gemeinsamkeiten gibt. Sie alle glauben an Gott, egal wie man ihn nennt. Im arabischen
Christentum heißt auch er Allah, weil es die wörtliche Übersetzung für Gott ist. Alle meinen am Ende den selben Gott, auch wenn ihre Schriften unterschiedliche
Schwerpunkte setzen. Alle haben die selben Ziele: Toleranz, Nächstenliebe und Frieden untereinander. Weshalb es in allen Religionen immer wieder Gruppen
gibt, die das nicht akzeptieren und Unruhe stiften wollen, ist mir ein Rätsel. Befremdlich wirken für mich daher diese extremen Ränder, die Fanatiker und
Fundemantalisten.
In jeder Religion findet man sie, die Extremisten, die radikal sind und ihren Glauben instrumentalisieren und interpretieren, um so ihre Heiligen Kriege und ihre
Gewaltbereitschaft zu rechtfertigen. Vielleicht habe ich als Aussenstehender einen anderen Blick auf die Dinge, ich weiß es nicht. Aber Gewalt, Terror,
Ausgrenzung und Hass sind einfach abscheulich und haben weder etwas mit dem Leben, noch mit einer Religion von Menschen zu tun.
Unverständlich für mich ist diese Ignoranz und der Wunsch mancher, zu spalten und Feindbilder aufzubauen. Wofür ist das gut? Was nutzt der Hass auf andere?
Was bringt es, mit dem Fremden Angst zu schüren oder fremde Kultur bewerten zu wollen? Hinzu kommen dann noch die, die meinen, man könne diese
Spaltung und das Aufwiegeln gegen andere Völker und Religionen politisch nutzen. Das ist nur schäbig, heuchlerisch und verabscheuungswürdig. Ich erinnere
hier nur an die selbsternannten Verteidiger des christlichen Abendlandes, von denen man annehmen muss, dass sie selbst gar nicht wissen, was christliche
Werte überhaupt sind. Ihrem Auftreten und ihrer Agitation kann man es zumindest nicht entnehmen. Zudem agieren diese Herrschaften nicht anders, als die
von ihnen immer wieder genannten und angeprangerten Prediger, die ihren Hass und ihre radikalen Ideen säen und verbreiten. Denn: auch sie tun es. Unmut
stiften und Spalten. Das ist fremd und gehört nicht in eine Welt, in der der Großteil der Menschheit einfach nur in Frieden und Ruhe leben möchte. Wobei man
eines dabei nicht vergessen darf. Jeder, der diesen Hetzern zuhört, egal woher sie kommen, kann selbst entscheiden, ob er diese zerstörerischen und
ausgrenzenden Wege mitgeht und ihnen folgt. Glücklicherweise sind die meisten Menschen so schlau, es nicht zu tun.
Meine Beispiele hier sind nur einige wenige Gedanken und Erlebnisse meines Lebens. Es gibt noch weit mehr Begegnungen und Überlegungen, über die ich
erzählen könnte. Aber das würde den Rahmen sprengen. Diese Beispiele prägten mich und zeigten mir, dass Unterschiede in Lebensweisen, Religiösität und
Ursprung immer nur dazu geführt haben, Menschen näher zu kommen. Mein Interesse zu wecken. Wenn ich mich darauf einließ, wurde das Fremde vertraut
und das Verständnis für andere größer. Ich kann die Weigerung einiger Mitmenschen nicht nachvollziehen, die ihren kleinen persönlichen Kosmos nicht
verlassen wollen, um doch mal über den Tellerrand zu schauen. Die nicht akzeptieren wollen, dass Menschen anderer Kulturen und Religionen genau das selbe
wollen, wie sie selbst. In Frieden und Freiheit leben. Ich habe das Gefühl, dass dieser Kreis, die das Fremde ablehnt, größer wird. Dass Toleranzgrenzen immer
enger gezogen werden. Dass Vorurteile immer mehr Barrieren im Kopf entstehen lassen und Verallgemeinerung die Meinung ersetzt. Aber vielleicht ist es nur
ein Gefühl und ich irre mich. Ich würde es mir so sehr wünschen.