LARIFARI
Kapitel 05 Der Initiator
Berlin ist ziemlich groß und ich liebe es. Ich kann es mir nicht vorstellen, in einer anderen Stadt, einem anderen Bundesland oder in einer anderen Gegend zu
leben. Abgesehen von den Freunden oder meiner Familie, die natürlich einen Wegzug ebenfalls beeinflussen würden, weiß ich: Berlin gehört zu mir und ich
gehöre zu Berlin. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Durch verschiedene Urlaubsreisen habe ich Landstriche auf dieser Welt kennengelernt, wo ich dachte
„Hier könntest du es aushalten und leben.„ Aber ich denke, dass kaum drei Wochen vergehen würden , dass ich mich zurücksehnen würde nach dieser Stadt,
dieser Hektik und seinen Einwohnern, meiner Heimat. Selbst London oder New York würden mich hier nicht herausreißen können. Obwohl ich beide Städte
mag, würde ich meinen Lebensmittelpunkt nicht eintauschen wollen.
Seit mittlerweile mehr als 35 Jahren lebe ich hier. Zugegeben, ich wohne natürlich nicht ganz mittendrin, sondern im Nordosten. Dazu noch im Grünen. Nur fünf
Minuten mit dem Auto gefahren und ich bin raus aus der Stadt. Viele Ecken Berlins sind mir vertraut und so ans Herz gewachsen, dass ich sie nicht vermissen
möchte. Viele Erinnerungen verbinde ich mit Berlin, die mir fehlen würden. Egal, worauf ich Lust bekomme, ich kann es hier tun. Die Kunst- und Kulturszene ist
fast unüberschaubar. Bei fast allen größeren musikalischen Veranstaltungen die in diesem Land stattfinden, weiß ich, dass diese in absehbarer Zeit in meiner
Stadt zu sehen sein werden. Ich brauche mich nicht weit entfernen, um einen bestimmten Künstler zu sehen. Die meisten kommen freiwillig hierher!
Zugegeben, hier stellt man sich anderen Fragen. Abgesehen von dem „ob“ man irgendetwas unternehmen möchte, sei es Kino, Theater oder Konzert, steht man
vielfach vor dem „was“ man erleben will. Restaurants, Kneipen, Konzertveranstaltungen, Kleinkunstbühnen, und was weiß ich noch alles, findet man hier an
vielen Ecken und Orten. Ein guter Platz, um Abwechslung in sein Leben zu bekommen. Wenn man sie benötigt.
J. und ich einigten uns auf einen Termin, um uns zu treffen und kennenzulernen. Februar 2004. Ein kalter Wintertag. Es stürmt, es schneit und die Temperaturen
liegen unter minus zehn Grad. Die Straßen sind nass, glatt und matschig. Da ich, wie schon beschrieben, aus dem äußersten Nordosten Berlins komme und Jörg
in der Nähe des Funkturms arbeitete, verabredeten wir uns im Bezirk Mitte, direkt am Hackeschen Markt. Damit wir uns trotz der Touristenbelagerung fanden,
legten wir eine ansässige Bank als Ziel unseres Treffens fest. 17.00 Uhr. Pünktlich. Ich bin wegen des schlechten Wetters etwa 1 Stunde vor dem Termin
losgefahren, obwohl ich normalerweise keine 20 Minuten für diese Strecke benötige. Das war völlig korrekt. Mehr als das Doppelte der Fahrzeit musste ich in
Kauf nehmen. Der Verkehr kroch bzw. rutschte dahin. Was für ein Glück, dachte ich, dass wir uns nicht draußen an einer Straßenecke verabredet hatten. Ich
hätte völlig durchnässt und durchfroren dagestanden. Somit wartete ich im Trockenen.
J. kennt sich in Berlin nach eigener Aussage nicht besonders gut aus, da er in Potsdam wohnt. Demzufolge greift er auf sein Navigationsgerät zurück, wenn er in
meiner Heimatstadt unterwegs ist. Ursprünglich aus NRW, aufgewachsen in einer Kleinstadt, nahe Dortmunds bevorzugt er ruhige Wohngegenden ähnlichen
Ausmaßes. Ein Arbeitsangebot trieb ihn vor einigen Jahren in unsere schöne Hauptstadt. In Berlin direkt könne und wolle er nicht leben. Das äußerte er einmal.
Viel zu hektisch, zu groß und unübersichtlich. Blieb als Alternative nur das Umland und in diesem Falle die Gegend um Potsdam übrig. Eine direkte
Autobahnanbindung, gute Einkaufsmöglichkeiten und eine relativ kurze Strecke über die Avus zum Arbeitgeber. Ich glaube sogar, wenn er zur Arbeit fährt, ist er
schneller vor Ort, als ich von Weißensee nach Kreuzberg, wo ich zur Zeit arbeite.
17.20 Uhr. Ich warte. Mein Handy klingelt. J.,es tut ihm leid, er stehe irgendwo in der Nähe des Potsdamer Platzes und komme nicht vorwärts. Es würde noch ein
Weilchen dauern. 17.40 Uhr. Wieder J. am Telefon. Es dauert nicht mehr lange. Er ist auf dem Weg. 10 Minuten später, ich war drei bis vier Mal in der letzten
Stunde vor der Tür um mir eine Zigarette anzuzünden, kommt Meister J. herein. Wir hatten uns noch nie gesehen, steuerten jedoch sogleich aufeinander zu.
„Frank? - J.? - Ja! - Hallo!„
Er sah gemütlich aus. Mindestens 2 Köpfe größer als ich, was nicht sonderlich schwer ist, recht kurzes Haar, Hemd, Krawatte, Arbeitstasche, mollig und
umgeben von einem Hauch eines Verkäufers oder Vertreters. Da hatte ich wohl mit meinem ersten Eindruck am Telefon gar nicht so unrecht, dachte ich. An der
nächsten Ecke, in der Nähe meiner alten Berufsschule, steuerten wir ein Restaurant an. Im amerikanischen Stil der 60er Jahre eingerichtet, fand ich es hier
gemütlich. Außerdem mag ich richtige Burger, nicht die pappigen, und alles was dazu gehört. Wir hielten Smalltalk, aßen ein wenig und erzählten uns
gegenseitig von musikalischen Begebenheiten und Erfahrungen aus den guten alten Achtzigern. Jörg arbeitete in diesem Jahrzehnt an einem Projekt, in dem die
Elektronikmusik im Vordergrund stand. Synthesizer, Sequenzer und Programmierungen standen dabei an erster Stelle. Er war für die technische Umsetzung
zuständig. Diese Dinge spielten zwar in meiner Musik ebenso eine Rolle, aber meine Ambitionen hatten sich anders entwickelt, so dass ich diese Möglichkeiten
mit den Jahren nur als Grundelement nutzte. Ich mag diese elektronischen Hilfsmittel ganz gern, arbeite jedoch möglichst mit herkömmlichen, akustischen
Instrumenten. Sofern das möglich ist. Das gab meiner Musik mehr Lebendigkeit und Bewegung. Ein Schlagzeuger oder Gitarrist kann in meinen Augen nicht
ohne weiteres ersetzt werden. Obwohl es mittlerweile einige gute professionelle Computerprogramme gibt, die einen Musiker imitieren können, werden diese
wohl in nächster Zeit kaum einer Musik die Tiefe und das Charisma verleihen, wie ein guter Instrumentalist. Das heißt natürlich nicht, dass ich elektronische
Musik nicht mag. Ganz im Gegenteil. Ich bin sogar ein großer Fan dieser Musikrichtung. Was ich damit sagen will, ist, dass beispielsweise Depeche Mode mit
Gitarre und Schlagzeug einfach überzeugender und ehrlicher klingen.
In dem Gespräch an diesem Abend stellte sich heraus, warum er sich mit den Inhalten bisher zurückhielt. Nicht nur allein, dass er die Leute, die er kennenlernte
und „rekrutierte“ zunächst prüfen wollte, sondern der Grund war viel banaler. Es gab, wenn man es genau nahm, gar keine ausgearbeitete Musicalgeschichte.
Ein Musical ohne Inhalte? J. hatte viele Ideen und ihm spukten tausende Ansätze im Kopf herum, aber war dies eine Grundlage? Ein erster Anfang waren
handschriftliche Ausführungen, die ich später zum Teil allein in meinen Computer eintippte. Ich war mir nicht sicher, ob sich dieser Ansatz lohnte. Aus Neugier
sagte ich ihm an diesem Abend zu, dabei zu sein und mitzuarbeiten.
Ich mag Musicals. Im Alter von 12 oder 13 Jahren sah ich „Anatevka“ das erste Mal live im Theater. Ich war begeistert. Meine Eltern waren bereits Jahre zuvor
große Fans dieses Stückes. Da es in den Siebzigern, weder Videorekorder, noch andere technische Möglichkeiten gab, die Inhalte eines Filmes festzuhalten,
stellten sie eines Tages einen Mono-Kassettenrekorder vor den Fernseher und nahmen, als die Verfilmung des Musicals mit Chaim Topol im Fernsehen lief, den
Ton auf. Ich saß bereits als 6-Jähriger vor diesem besagten Kassettengerät und lauschte Tevje, dem Milchmann, seiner Frau Golde und dieser hervorragenden,
emotionalen Musik. Ich weiß nicht mehr exakt, wie oft ich später dieses Stück im Theater sah, jedoch wusste ich seitdem, dass mich diese Art von
Bühnenstücken anzog. Es folgten unzählige Theaterbesuche in den nächsten Jahren. Cats, West Side Story, Phantom der Oper, Starlight Express, einige Opern,
wie die Zauberflöte oder La Traviata, einige Operetten und vieles andere mehr. Meine Frau und ich nutzten teilweise Auslandsbesuche, um uns z.B. in London
oder New York Musicals anzuschauen.
In den letzten Jahren ist unglücklicherweise ein Trend zu bemerken, den ich nicht nachvollziehen kann. Die totale Kommerzialisierung. Es mag sein, dass das
Publikum solchen Theaterstücken in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit schenkte und durchaus auch sehen möchte. Deshalb kann man es z.B. dem
Disney-Konzern nicht verdenken, seine Trickfilme und deren Inhalte, wie auch dessen Musik in anderer Form, wie z.B. der des Musicals wiederzuverwerten, zu
vermarkten und den größtmöglichen Profit zu erwirtschaften. Dies ist eine Strategie, die zugegeben erfolgreich ist. Aber muss ein neues Musical immer eine
möglichst erfolgreiche Buch- oder Filmvorlage besitzen? Ist die Quantität wichtiger als die Qualität? Müssen weltbekannte Hits erneut ausgeschlachtet und in ein
Gerüst gepresst werden, damit sie in ein solches Format passen? Das ist nach meinem Empfinden doch kein Garant für ein erfolgreiches Musical. Wo bleiben die
Ideen? Die echte Kreativität? Oder muss man ein Musical rein aus wirtschaftlicher Perspektive erschaffen und nicht aus der künstlerischen? Sind es die Verlage
und Theater, die keinerlei Risiko mehr eingehen und nur noch eine Art Stangenware einkaufen wollen? Ich habe mir, abgesehen von wenigen Ausnahmen
verkniffen, in eines dieser „neuen“ Musicals zu gehen. Interessenhalber hörte ich mir ab und zu entsprechende Musikaufnahmen davon an und war oftmals
enttäuscht. Keine Innovation, keine echten Ideen und vor allen Dingen kaum ein Song, der sich mir in das Gedächtnis eingebrannt hätte. Wie sagt man so schön:
0-8-15. Man hat das Gefühl, dass diese Musik nur geschrieben und betextet in eine Erzählung hineingepresst wurde, um es Musical zu nennen. Schade! Wenn
ich da an „West Side Story“ oder „Jesus Christ Superstar“, „Rocky Horror Show“ oder „Linie 1“ denke, dann sind diese neuen Musikwerke fern ab solcher Qualität.