LARIFARI
Kapitel 19 Das Böse
In dem Song der Ersten Allgemeinen Verunsicherung "Einmal möchte ich ein Böser sein" heißt es „...die Bösen sind nicht gut...“. Für eine Geschichte hingegen
sehr wohl. J. wollte unseren Hauptcharakteren grundsätzlich eine „reine Seele“ überstreifen. Mit vielen guten und nennenswerten Eigenschaften und
Fähigkeiten. Die Bedrohungen und Ängste in unserer Geschichte sollten prinzipiell von außen kommen. Schön und gut. Nun haben wir uns für das Musical
einen Zeitstrang ausgesucht, wo all die mutmaßlichen Bedrohungen und Gefahren kaum eine Rolle spielen. Nur, wenn wir in die Vergangenheit der Gesamtidee
schauen, erfahren wir von Ereignissen, die gefährlich waren und Dramatik erzeugen könnten. Aber eine Geschichte, die ausnahmslos aus Rückblenden besteht,
steht meiner Meinung nach nicht zur Diskussion.
Torsten und ich waren uns einig, dass sich etwas ändern müsse, um Spannung in den vorgegebenen Zeitverlauf des Musicals zu bringen. Konflikte müssen
ausgetragen werden, Harmonie und Disharmonie entstehen, Gegensätze müssen aufeinander treffen. Nur auf diese Weise kann man den Zuschauer für sich
gewinnen und ihm einen unterhaltsamen Ansatz geben, mitzufiebern. Mir kann keiner erzählen, dass sechs Menschen (in diesem Fall unsere Hauptcharaktere)
auf engstem Raum und langer Zeit unter echten Bedingungen keine Konflikte entfachen. Ebenso können Auseinandersetzungen eskalieren! Vor allen Dingen
muss etwas mit der Geschichte passieren, damit man diesen Zustand ändern kann. Ende Juni schrieb Torsten J. eine Mail. Kurz und knapp hieß es darin: „Moin,
ganz wichtig!! Ich brauche einen BÖSEN! Schönes WE noch“. Das war gut. Das war endlich etwas, dass mir gefiel und meinen Vorstellungen am nächsten war. Ich
war begeistert! Da schoss mir ein weiterer Song, diesmal von „Die Ärzte“ durch den Kopf. Ja, wir brauchen einen „El Cattivo“ : ... denn er weiss, das Böse siegt
immer ... dreckig, feige und gemein...“. Eine dramaturgisch sinnvolle Ergänzung konnten wir gut gebrauchen. Ein Gegenspieler zu den anderen, einer der in
gewissenloser, finsterer Absicht handelt, war dafür wie geschaffen. Wobei das Böse bei uns nicht siegen sollte. Aber man weiß ja nie...
J. sah diese Chance nicht. Als erste Antwort kam: „ Moin back, wie böse? Es gibt einen Zweifler im Team, eigentlich der Erste (Anm. Offizier) und beste Freund
vom Hauptdarsteller, mit dem er Dialoge "ausfechten" soll. Reicht zweifeln oder muss dieser richtig Kontra-Böse zu den anderen sein (Das würde dann
schwierig werden, roten Faden modifizieren und so ...)“ Im Übrigen hatten wir in unserem Roten Faden noch gar keine Geschichte?! Ich fragte mich, was soll aus
welchem Grund, außer J.´s ursprünglichen und eigenen Songs geändert werden? Nach einer kurzen telefonischen Auseinandersetzung willigte J. dann ein, diese
Idee zu verfolgen.
Wenige Tage Zeit später brach eine kleine Welt zusammen! So musste sich J. gefühlt haben, als wir unsere nächsten Ideen präsentierten. Torsten und ich
grübelten eine ganze Weile, bis wir das perfekte Szenario zusammengestellt hatten. Unsere Überlegungen gingen dahin, dass unser neu erdachter „Böser“
intrigieren und sabotieren könnte. Er müsste demnach mit aller Macht aufgehalten werden, was er selbst natürlich verhindern möchte. Eine mögliche
Konsequenz, die hieraus gezogen werden kann ist, dass er sterben muss. Am besten durch die Hand unseres Helden! Die Idee ist zwar altbacken, aber sie
könnte funktionieren.
Nach der Präsentation unserer Gedankenspiele wusste sich J. nicht anders zu helfen und berief zum ersten Mal verzweifelt eine Telefonkonferenz ein. Er
sträubte sich im übertragenden Sinne „mit Händen und Füßen“ gegen diesen Handlungsstrang. „Unser Held...um Gottes Willen...alle sind doch gut....ein Böser,
naja, in Ordnung ... aber Tod .... ?" Ich weiß nicht genau, wie lange unsere Konferenz andauerte. Aber am Ende hatten Torsten und ich das Gefühl, ihn mit guten
Argumenten überzeugt zu haben.
In den nächsten Wochen wussten wir, dass wir daneben lagen. J. beriet sich in diesen Tagen mit Manfred. Diesen Tod akzeptierte er zunächst leidend, da er es
versprochen hatte. Aber mangels eigenen Ideen wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte. Fiel gegebenenfalls unserem Ideengeber aus Bayern etwas ein?
Wichtig schien, nehme ich an, noch immer der Fakt, dass ja alle gut wären. Diesen Bösen dürfe es seiner Meinung nach und auch nach unserem Gespräch, nicht
geben. Aber wie? Wie kommt J. aus diesem Schlamassel wieder heraus?
Dann kam der rettende Einfall: Der Tod, wenn er in unserer Geschichte wirklich eine Rolle spielen sollte, dürfe am besten nicht absichtlich geschehen. Die
Abhandlung, die uns hierfür zugesandt wurde, sah wie eine Gegendarstellung aus: Der Saboteur und Zweifler sabotierte und bei diesen Handlungen kommt er,
hach, wie durch einen Zufall zu Tode und rettet dabei noch den Rest unserer verbliebenen Crew. Gleichzeitig erkennt er seine Fehler und entschuldigt sich. Der
Böse war kein Böser mehr und darüber hinaus hatte er sich durch seine heroische Tat noch einen Orden verdient! Torsten und mir blieb nichts anderes übrig,
als darüber zu schmunzeln. Es folgten dann in der Zeit danach immer wieder diverse Schriftstücke mit stufenweisen Abschwächungen dieser Handlung, bis am
Ende nicht einmal ein Ansatz von Boshaftigkeit zu erkennen war.
Der Ursprung, dass der Böse durch seine Taten ein gerechtes Ende finden muss, wurde scheibchenweise kaputt gemacht. Wir versuchten zwar unser
ursprüngliches Ziel zu retten, aber einen positiven Beschluss gibt es darüber bis heute, nach mehr als 4 Monaten, immer noch nicht. Schade. Seit wir anfingen,
das Stück zu schreiben, hat J. zwar regelmäßig etwas von „Teamarbeit“ und „jeder kann seine Ideen einbringen“ gepredigt, aber allem Anschein nach, geht nur,
was ihm selbst vorschwebt oder was allein ihm gefiel. Interessant dabei: In dieser gesamten Auseinandersetzunh stammte nicht eine einzige Idee von J.
Die Diskussionen verwunderten mich. War es die Gewalt? Das wäre unwahrscheinlich, denn Gewalt spielt in J.´s Urform der Geschichte eine entscheidende
Rolle. Völker bekämpfen sich, Terroristen zerstören die Erde, die Familie unseres Helden wird ermordet und so könnte ich eine Reihe solcher schriftlich
niedergelegten Begebenheiten anführen.
Damit sind wir bei dem hauptsächlichen Problem. Ich führte ja aus, dass J. Songs erstellt. Dieses Liedgut oder diese „-güter“ sind im Grunde genommen keine
echten Songs, sondern Abhandlungen, von dem bisher erstellten Roten Faden. Dieser bestand vornehmlich aus recht vielen Beschreibungen äußerlicher
Sachverhalte, Nebensächlichkeiten und allgemein gehaltenden Situationen. Vergleichbar wäre es, wenn Tolkien´s "Herr der Ringe" ohne Frodo´s und Sam´s
Geschichte erzählt wird. Wobei selbst der Rest mehr Substanz enthielte, als das, was uns vorlag. Nur wenig bezog sich auf einzelne Personen und deren
Lebensumstände. Möglichst viel Textmaterial, in kompakter Form, genauer gesagt ganze Kapitel dieser Geschichte werden in einer Art Sprechgesang
heruntergebetet. Unterlegt mit Musik. Dabei weicht J. keinen Millimeter vom seinerzeit Geschriebenen ab. Manchmal habe ich das Gefühl, dass dies sein
geistiges Heiligtum bleiben soll. In Stein gemeißelt. Nur macht es dann wenig Sinn, sich äußere Hilfe und Kreativität zu holen, wenn man nichts ändern will. Es
erinnert mich im weitesten Sinne an das Kind, das mit den anderen spielen, jedoch sein Spielzeug nicht teilen möchte. Für uns bedeutet es, wenn wir mit
unseren Ideen die Geschichte abwandeln, haben textliche Elemente in seinen Songs kaum Bestand mehr. Dieser Fakt wird für eine Weiterentwicklung des
Musicals nicht sehr hilfreich sein. Ich befürchte, dass wir nachher mehr diskutieren werden, als schreiben.*
Diese kontroversen Diskussionen und Auseinandersetzungen hatten auf der anderen Seite ihr Gutes. Zumindest für Torsten und mich. Es entstanden mit einem
Schlag weitere Texte. Dieser Sachverhalt beflügelte nunmehr meine Fantasie und ich konnte komponieren. Gezielt und mit echten Bildern im Kopf. Und vor allen
Dingen war dies kein Komponieren auf einen Verdacht hin.