LARIFARI
Kapitel 24 Jeder macht, was er will!, …
…Keiner macht, was er soll! Und alle machen mit!
Meine neue Strategie gestaltete sich schwieriger, als erwartet. Der erste Termin unserer gemeinsamen Schreibtätigkeit fand statt. Im Vorfeld gab es technische
Probleme, die ausgeräumt werden mussten. Anstatt uns vom dichten Feierabendverkehr abhängig zu machen, beschlossen wir, dass unsere Arbeitsstätte der
jeweils eigene PC mit Internetanschluss sein muss. Die sprachliche Kommunikation sollte über das Telefon erfolgen und in Echtzeit arbeiten wir an einem
einzigen Dokument. Dafür experimentierten wir mit verschiedenen Computerprogrammen und -möglichkeiten herum, um unsere Rechner online in eine Art
Netzwerk zu bekommen. Aber die Mühe war umsonst. Sie gestaltete sich schwieriger, als wir annahmen. J. kennt sich mit Netzwerken aus, da er sie geschäftlich
nutzt, aber wir fanden keine befriedigende Lösung. Das lag unter anderem daran, dass Jörgs Computermaschinerie so erfolgreich von der Außenwelt
abgeschirmt war, dass ich keine Möglichkeit erhielt, auf sein Netzwerk zuzugreifen und umgekehrt. Wir wussten nicht, wie man diesen Umstand umging. Erst
Roland konnte uns einige Tage später eine externe Möglichkeit präsentieren, die es uns erlaubte unsere Vorstellungen umzusetzen. Der Test war kurz und
schmerzlos und funktionierte. Wir arbeiteten in der Cloud. So nennt man es, sagte man mir. Jörg saß in Potsdam, ich in Berlin und wir konnten zu gleicher Zeit
an einem Dokument arbeiten.
Ich bat darum, über den Test hinaus, mit unserer geplanten Aufgabe zu beginnen. Entgegen meiner Erwartung wollte J. lieber eine weitere Untergliederung der
bisherigen Themen vornehmen. Mit vielen dicken Überschriften. Wieso? Wir wollen schreiben. Szenen und Dialoge, dem Ganzen Leben einhauchen, mit
Erläuterungen oder Anweisungen, was auf der Bühne zu sehen ist. Keine Chronologien, keine Überschriften ohne Inhalt! Er gab zu Bedenken, dass wir uns
verzetteln und später nicht mehr wissen, wo etwas hingehört. Aber mal ehrlich: Will ich ein Theaterstück mit 150 Szenen schreiben, die möglicherweise in einem
falschen Zeitablauf stehen? Eher nein.
Wir kamen uns in diesem Zwei-Stunden-Gespräch mehrmals in die Quere. Dabei ging es um die Dramaturgie unseres Stückes. J. hielt sich wieder krampfhaft an
dem bisher von ihm Geschriebenen fest, ohne Vorausschau, was unseren Theaterbesucher erwartet. Das bestätigte mir, dass er sich mit der Antwort von
Stephan, dem Regisseur nicht auseinandergesetzt hatte. Seiner Vorstellung nach, müssten wir einen Epilog schreiben. Ein Intro, dass viele Zusammenhänge
erklärt und einen Teil der Vorgeschichte erzählt. Nach den vorgeschlagenen Inhalten zu urteilen, wäre dieser so lang ausgefallen, dass der Zuschauer eine viertel
Stunde gewartet hätte, bevor auf der Bühne etwas passiert. Ich sehe es vor mir – unser Musical beginnt, und beginnt, und beginnt – und die Zuschauerreihen
lichten sich, bevor der erste Song gesungen wird. Was für eine Vorstellung! Meine Versuche, ihm das auszureden, nahmen in diesem Telefonat zwei Drittel
unserer Zeit in Anspruch. Jörg versuchte stets durch die Hintertür das zu erreichen, was er wollte indem er mich beruhigte. Sprüche wie: ...lass uns das erst
einmal herunterschreiben - streichen können wir immer noch... oder ...sieh, der Stand hier und heute ist vorerst nur grob umrissen.... Worauf ich nur
antwortete, dass man unsinnige Inhalte sofort ausklammern muss. Meine Nerven litten. Im Gegensatz zu mir, fand Jörg diese Besprechung sehr konstruktiv und
hilfreich. Das Dokument, dass entstand, wäre in 5 Minuten erstellt worden, da wir nicht ein Wort eines Mono- oder Dialoges niederschrieben. Wenn in der
Zukunft jedes Mal solche Emotionen aufkochen, jedes Mal logische und konsequente Abläufe der Geschichte ewig diskutiert werden, muss ich kurz vor der
Präsentation unseres Schauspiels massig graue Haare überfärben.
Kunst. Wir machen Kunst und müssen uns den Gegebenheiten anpassen. Ich sollte mich in den Zuschauer hineinversetzen können. Das muss Jörg lernen. Die
Kunst ist ein weiter Begriff, der ohne ein absehbares Ende ausgelegt werden kann. Wir wollen, dass unser Musical eine breite Masse anspricht. Und das muss
sich jeder, der daran mitarbeitet, eingestehen. Wir könnten uns ein künstliches und überzeichnetes Produkt ausdenken, wie es auf manchen Theaterbühnen
dieser Republik praktiziert wird. Chaotische Musikfetzen mit unverständlich kreischenden Schauspielern, die vor einer weißen Wand stehen und möglichst
halbnackt Verrenkungen machen. Das ist Kunst. Mach mir den Schlingensief! Aber wollen wir das?
Dieses Szenario stellt durchaus eine Verknüpfung zur Malerei her. Ich denke noch mit Schrecken an einige Bilder der MoMA zurück, die hier in Berlin vor Jahren
zu sehen war. Ich mag die Malerei und sah mir auf dieser Ausstellung mit Freude Bilder von Matisse, van Gogh, Picasso, Hopper, Lichtenstein, Magritte oder
meinem Lieblinksmaler Dali an. Mein Verständnis für die Kunst hörte aber bei Miro, Pollock und einigen anderen auf. Ein weißes Bild, ein rotes Bild....,was
wollten mir die Künstler sagen? Womöglich bin ich nicht so intellektuell, dass ich es jemals verstehen werde. Aber am Ende ist dies, wie vieles andere,
Geschmackssache. Das Risiko, die von uns gewünschte Zielgruppe nicht zu erreichen, wird dennoch hoch sein.
Dabei fällt mir eine kleine Anekdote ein, die ich mit meiner Band erlebte. Wir gaben im Zuge einer Veranstaltungsreihe ein kurzes Konzert. Das Motto der
Hauptveranstaltung ist mir längst entfallen. Es muss unter der Rubrik Kunst angekündigt worden sein. Wir bereiteten unser kleines Gastspiel vor und hatten,
bevor wir auftraten, die Möglichkeit, uns andere Künstler anzuschauen. Das taten wir. Ich dachte sofort, ich bin im falschen Film. An zwei Darbietungen kann ich
mich speziell erinnern. Da war zum einen eine Truppe, die unkontrolliert auf Sanitärausstattungsgegenstände mit Schlägeln und anderem Gewerk drauflos
schlug. Ich erlebte Ähnliches bei der „Blue Man Group“, die es selbst eher von den Einstürzenden Neubauten übernahmen. Hier wurde aber im Gegensatz zu
der genannten Vorstellung Musik damit gemacht. Das Publikum klatschte und bejubelte diesen Vorgang. Die zweite Performance, die ich sah, war eine
Mischung, die ich nicht beschreiben kann: ein Mann bearbeitete unrhythmisch und wie wild Perkussionsinstrumente. Daneben, ein anderer, völlig
durchgeknallter Typ, spritzte wie wild aus diversen Eimern Farbe an eine weiße Wand. Tja, wie soll ich sagen, auch hier kam es zu Begeisterungsstürmen des
Publikums. Dann betraten wir die Bühne. Sehr schön und eindringlich interpretierten wir unsere Pop-Songs von der Liebe, von der Welt und dem, was uns
störte. Die Zuschauer wandten sich bereits nach den ersten beiden Titeln ab und der Beifall wurde zusehends eingestellt. Wir wunderten uns und brachen
unsere Vorstellung nach 30 Minuten vorzeitig ab. Was war geschehen? Ich verstehe es bis heute nicht. Nicht nur, dass uns die Zuschauer wegliefen, nein nach
unserer Vorstellung kamen sogar einige Herren aus dem Publikum und fragten uns in ernsthafter Absicht, was wir mit unserer Musik ausdrücken wollten! Hä?
Wie ausdrücken? Ich mache Musik zur Unterhaltung! Ich erzähle Geschichten! Gut, ich muss mich hier nicht rechtfertigen. Aber ich schätze, wenn mein
Schlagzeuger seine Trmmeln zerdroschen, mein Bassist mit seinem Bass Tennisbälle durch die Gegend geschlagen hätte und ich dazu gerufen hätte:
Die Ruhe liegt im Erbe Deiner Gunst
nicht wissend, sie nun anzugehen
ein Schauspiel strahlend seiner Kunst
ein dunkles Klar nun aufzustehen...
dann wäre dieser Auftritt gerettet gewesen. Und ganz sicher: Selbst wenn ich mir diese Worte soeben aus den Fingern saugte und diese keinen rechten Sinn
erkennen lassen, dieses Publikum hätte sofort gewusst, was ich ausdrücken möchte.