LARIFARI
Kapitel 27 Zwischengedanken
Jetzt, da wir die ersten Seiten schrieben, stellt sich mir die Frage, was den Menschen oder in dem Fall den Zuschauer an Geschichten fasziniert. Wie muss ein
Theaterstück aussehen, dass fesselnd genug ist, es erleben zu wollen? In welche Richtung müssen unsere Gedanken gehen, dass eine glaubhafte Erzählung
entstehen kann? Reicht eine Analyse erfolgreicher Unterhaltungsmedien aus?
Inhalte sind wichtig. Welche Botschaften besitzen sie und welchen Stellenwert sollen Beschreibungen jeglicher Art bekommen. Zur Zeit sind zirka neunzig
Prozent der Ideen aus dem Roten Faden nebensächlich. Um ein Beispiel zu nennen: Mich interessiert nicht, wie kaputt eine Welt ist, ob sie eine rote Sonne
umrundet und welche Lebensräume vorhanden sind. Vielmehr interessiert mich, wer sie zerstört hat und warum, ob ein Mensch darauf leben kann und unter
welchen Umständen. Ich drängte von Anfang an darauf, in der Theaterfassung eine persönliche Ebene zu erreichen. Ich möchte Figuren erschaffen, mit denen
sich ein Zuschauer identifizieren kann und einen persönlichen Bezug zu dieser aufbaut. In einigen Auseinandersetzungen verstand Jörg mein Problem nicht. Für
ihn sind äußerliche Beschreibungen eine Grundlage, auf der man den Rest aufbaut. Diesen Eindruck bekam ich. Nebensächlichkeiten bleiben selbst mit einer
Geschichte Nebensächlichkeiten. Ob ein Darsteller sich auf einen Stein setzt, der aus Granit oder Marmor besteht, ist völlig schnuppe. Das interessiert keinen.
Dieser Vergleich ist überspitzt, aber das Ergebnis bleibt, dass sich jemand hinsetzt. Erst, als unter anderem Torsten anmerkte, dass er gar keine Informationen
aus dem Ursprungsmaterial herauslesen könnte, woraus man Songtexte schreiben kann, begriff Jörg, was ich meinte. Es gab nichts, worüber unsere
Hauptdarsteller singen könnten. Wir müssen unseren Hauptpersonen eine Identität, ein Gesicht und eine Persönlichkeit geben und ihre Probleme in die
Geschichte einbetten. Ansonsten wird es langweilig. Das heißt, dass wir ab diesem Punkt eine völlig neue Geschichte erzählen.
Wenn ich Parallelen zu unserem Projekt in der Science Fiction suche, dann fallen mir Episoden der Star Trek - Reihe ein. Dort wurden viele Handlungsstränge auf
persönlicher Ebene aufgebaut und in den Weltraum integriert. Die Geschichten, die dabei erzählt wurden, hätten aber ebenso in einer anderen Zeit und an
anderen Orten funktioniert.
Den „König der Löwen“ oder „Sunset Boulevard“ schaut man sich an, um eine Show zu erleben. Dabei spielen die Inhalte kaum eine Rolle. Wer den Löwenkönig
gesehen hat, antwortet auf die Frage, wie es war: „bunt“! Man möchte dabei unterhalten werden. Mit Farben, Licht, Tanz und einer tollen Show. Nicht nur, weil
man den Film dazu gesehen hat. Stücke wie „Mamma Mia“ , „We will rock you“ oder „Saturday Night Fever“ können allein locken, weil die Musikstücke bekannt
sind und jedermann sie zumindest mitsummen kann. Ich selbst kann damit nichts anfangen. Aber wer es mag, sollte sich diese „Musicals“ anschauen. Ich denke,
ich könnte hier noch viele Beispiele geben, warum sich die Menschen Musicals anschauen, bei denen die Geschichte völlig in den Hintergrund gerückt wurde.
Unser Ansatz ist weit entfernt davon, eine bekannte Geschichte zu adaptieren, um sie auf die Bühne zu bringen. Vielleicht ein Fehler oder wirtschaftlich
gesehen, der falsche Ansatz. Ganz klar, wir schreiben etwas Neues, etwas Eigenes. Mir ist dabei bewusst, dass wir das Rad nicht neu erfinden werden. Die
Geschichte wird in dem einen oder anderen Maße an bisher bekannten Themen angelehnt sein. Aber sie ist neu! Einen großen Vorteil hat diese eigene Kreation:
Wir müssen uns nicht um Urheberrechte bemühen.
Ich schweife ab. Um bei meinem Thema zu bleiben: Auf welche weitere Art und Weise sollte unser Stück seine Geschichte erzählen? Jörgs Aufzeichnungen
stellten uns vor eine kaputte Welt, eine kaum noch haltbare Politik, desaströse Umweltkatastrophen und viele Visionen, die der Menschheit besser erspart
blieben. Worauf möchte der Urheber hinaus? Kann sich diese Welt eines Tages so entwickeln, wie in unseren Weltuntergangs-Szenarien? Vielleicht. Einige Dinge
unserer heutigen Realität gehen bereits in eine Richtung, die für uns Menschen fatal enden könnte. Sehen wir uns um, was auf dieser Erde alles passiert. Elend,
Kriege, Hunger, Zerstörung und viele andere Grausamkeiten sind tagtäglich in den Nachrichten präsent. Die große Frage, die sich hier stellt, ist die, ob uns diese
Bilder und Informationen überhaupt noch berühren, weil die Flut dieser so immens groß ist! Nur ein harmloses Beispiel, dass in unserer Geschichte eine Rolle
spielt und in den letzten Monaten intensiv von den Medien behandelt wurde: die Umweltverschmutzung und seine Folgen. Bereits in den Achtzigern, als Jörg
dieses Thema einband wusste man als aufmerksamer Beobachter, was die Menschheit unserer Erde antut. FCKW, Brandrodungen, Abgase, Verunreinigung der
Flüsse und Meere – das sind alles Themen, von denen wir in der Schule hörten! Nicht erst jetzt, nach den erneuten Diskussionen über das Kyoto-Protokoll, dem
Report des UN-Klimarats IPCC oder dem Film „Eine unbequeme Wahrheit“ von Al Gore wissen wir, mit welchen Folgen wir rechnen können. Nach mehr als 20
Jahren, seit ich das erste Mal bewusst von den Umweltproblematiken hörte, ist dieses Thema konstant ein akutes. Warum? Da fragt man sich, ob keiner
dazugelernt hat! Oder machten sich viele von uns keine Gedanken mehr darüber? Ich glaube nicht, dass es aus dem Bewusstsein entschwunden war. Es war
womöglich nicht ständig präsent. Das einzige, was heute anders ist, als in der Achtzigern, wir bemerken die Auswirkungen unseres Treibens. Und hier besteht
ein Ansatz aus der anfänglich gestellten Frage, worauf der „Autor“ hinaus möchte. Manche Themen verschwinden genauso schnell aus den aktuellen
Nachrichten, wie sie gekommen sind. Wenn man nun ein unangenehmes Thema unterhaltsam verpackt, kann man durchaus eine andere Nachhaltigkeit
erzeugen, als jede Nachrichtensendung. Sicherlich sind Jörg´s Theorien nicht nur in diesem genannten Beispiel viel überspitzter. Wenn man sich anschaut, was
zu Jules Verne´s Zeiten Science Fiction war, dann kann man nur hoffen, das einige dieser Zukunftstheorien nie eintreten.
„Was-wäre-wenn-Szenarien“ kann man im Theater oder im Film umsetzen. Man sollte dabei aufpassen, dass man unterhalten und nicht allein den Zeigefinger
erhebt. Gerade bei den genannten Hintergründen. Ich denke, man muss es, neben den vorrangigen Inhalten durch Stimmungen untermalen. Das weiß jeder
Filmregisseur. Wir können es überwiegend durch die Musik. Der Filmemacher ebenso, aber ihm stehen viel mehr visuelle Möglichkeiten zur Verfügung, weil der
Zuschauer recht nah vor der Handlung sitzt. Ich weiß, dass mich das düstere Ambiente und die dazu angemessene Untermalung bei „Phantom der Oper“ oder
„Jekyll and Hyde“ völlig eingenommen hat. Zunächst waren für mich die Inhalte nebensächlich. Ich betrachtete das Ganze eher aus analytischer Sicht. Selbst
Science-Fiction-Filme oder -Serien, in denen eine Endzeitstimmung herrscht, faszinieren nicht nur mich allein. Ich nehme an, dass der Zuschauer sich nach Angst
und Unbehagen in solchen Aufführungen oder Filmen sehnt. Wahrscheinlich, um sich vor Augen zu halten, dass es ihm persönlich in diesem Moment gut geht.
Er möchte sich gelegentlich durchaus einen Spiegel vorhalten lassen, aber dabei unterhalten werden.
All diese Punkte, die ich aufführte, können, soweit wir uns mit ihnen beschäftigen, dazu beitragen, eine gutes und unterhaltsames Musical zu schreiben. Darüber
hinaus nehme ich das erste Mal in meinem Leben die Chance wahr, den Menschen dort draußen etwas mitzuteilen. Das war so nicht von mir beabsichtigt.
Kontinuierlich benötigt man kleine Anstupser von außen, die einem bewusst werden lassen, welche Möglichkeiten man besitzt und nutzen könnte. Diese Arbeit
an meinem kleinen Büchlein hat dazu beigetragen, über vieles nachzudenken. Ist es nicht fantastisch, wenn man ein Publikum durch die eigene Musik
ansprechen kann? Es in Stimmung versetzen, und für zwei Stunden in eine selbst geschaffene Welt mitnehmen kann? Allein das ist es, wofür es sich zu arbeiten
lohnt! Ich möchte gar kein Politiker sein, der etwas auf den Weg bringt, dass ein anderer zu späterer Zeit wieder zunichte machen kann. Ich habe viel mehr
Möglichkeiten mit meiner Kunst, etwas Beständiges zu erschaffen, dass mir keiner je entreißen kann. Wir müssen diesen Spagat zwischen der Unterhaltung und
unseren ernsten Botschaften machen. Das ist klar. Ob uns das gelingen wird, weiß ich noch nicht. Ich wünsche es mir und gebe mein Bestes.