LARIFARI
Kapitel 43 Feinheiten
22.06.2008 Knapp zweieinhalb Monate ist es her, dass das letzte Kapitel unseres Librettos niedergeschrieben wurde. Jörg erklärte sich bereit, unsere Zeilen in
ein vernünftiges Arbeitsdokument umzuwandeln. Dafür nahm er sich Zeit. Zeit, die ich brauchte, um viele private Dinge zu erledigen. Mir kam es recht. Ich hatte
den Kopf für technische Umformatierungen sämtlicher Art ohnehin nicht frei.
Es ging so langsam ans umgangssprachliche Eingemachte. Im Vorfeld übermittelte mir Jörg regelmäßig seine bis dahin überarbeitete Version, so dass ich eines
Tages eine ausgedruckte Vorlage besaß. Da ich zwischenzeitlich eine Woche in den Urlaub fuhr, nahm ich sie mit. In einer ruhigen Minute konzentrierte ich mich
auf das Manuskript und stellte mit Schrecken fest, dass zum einen ein Songtext aus Jörgs eigenen Liedern enthalten war, sowie einige Anmerkungen, die mir
Kopfschmerzen bereiteten. Da war die Rede davon, dass „...seine Botschaften nicht enthalten waren...“, dass es in einigen Szenen „ zu viel Gesinge...“ gab, dass
ihm der gesamte Schluss nicht gefiel und zu guter Letzt, dass unser Böser als Held sterben müsse. Was taten wir in all den letzten Monaten? Wir schrieben!
Gemeinsam! Und mit einem Mal entsprach ein ganzer Teil nicht mehr seinem Geschmack? Ich verstand die Welt nicht mehr! Ich wusste gar nicht, was ich von
diesen Aussagen halten sollte. Tage zuvor machte er am Telefon einige Andeutungen, mit denen ich zunächst nicht viel anfangen konnte. Zum einen hat er, wie
ich ebenso, all seine Ideen an unseren Schreibterminen umsetzen können. Selbst, wenn nur Kompromisse entstanden. Mir ging es nicht anders. Wenn die
Botschaften eine so hohe Priorität besaßen, warum brachte er das nicht im Schreibprozess ein? Dass es zu viel „Gesinge“ gab, lag wohl in der Annahme, dass wir
ein Musical schrieben! Und nach all den Diskussionen um das Böse kramte er abermals seine alten Ideen heraus, die zu diesem Zeitpunkt längst überholt
waren. Wir besprachen all das, stundenlang! Mehrfach! Ich wusste, dass ich handeln musste. Ansonsten hätten wir wieder wochenlang gesessen, um alles zu
seiner Zufriedenheit umzugestalten.
Nur war diese Geschichte lange nicht mehr ausschließlich seine. Das sollte ihm bewusst sein! Es ist ebenso meine. Und so machte ich den Vorschlag, ihn zu
besuchen, um darüber zu sprechen. In den Tagen zuvor rasten meine Gedanken, wie ich mir unter diesen Umständen eine ganze Reihe von neuen Diskussionen
und eine Menge Zeit ersparen konnte und fuhr an unserem verabredeten Termin zu ihm nach Hause. Kaum angekommen, ging ich sogleich in die Offensive. Er
sollte mir hier und jetzt seine Botschaften detailliert erläutern und sogleich einen Vorschlag unterbreiten, wie diese in unserem Manuskript aussehen müssten.
So, dass er damit leben könne. Ich denke, er wusste selbst nicht, was ihm fehlte. Denn im Endeffekt änderten wir wenig. Einige Zusatzideen entstanden, die ich
persönlich gut und hilfreich fand, zum Teil selbst entwickelte und die sich wunderbar in die Geschichte einfügten. Dem Heldentod konnte ich glücklicherweise
entgegenwirken, in dem wir unserem Antagonisten noch einen Satz im Tode gönnten, der ihn zumindest nicht, man verzeihe mir meine Wortwahl, als totales
Arschloch sterben ließ. Damit konnte ich zufrieden sein.
Um drastische Einschnitte in einigen wahllos ausgesuchten Szenen zu vermeiden, machte ich den Vorschlag, das Manuskript laut zu lesen. Szene für Szene. Von
Anfang an. Erst dann, denke ich kann jeder Satz beurteilt und der Fortlauf unserer erdachten Ereignisse auf Unzulänglichkeiten geprüft werden. Wenn dann
etwas nicht passen sollte oder fehlt, werden wir es auf diesem Wege erfahren.
Und so war es. Ich begann mit der ersten Szene. Meine Interpretationen des Textes waren weit von denen eines ausgebildeten Schauspielers entfernt, aber für
unsere Zwecke ausrechend. Wir begannen zu streichen, umzuformulieren und bemerkten erste Fehler im Text, die wir korrigierten, verschoben oder änderten.
Jörg nahm zum ersten Mal bewusst wahr, dass einige Formulierungen, mit denen er so manches Mal unseren Arbeitsablauf aufhielt und wo dann „...ein
Schuh...“ daraus wurde, zum Teil sehr unpraktikabel darzustellen oder zu sprechen war. Auf dem Papier sah es rhetorisch ganz gut aus, aber in der Praxis
drückte sich so kaum ein durchschnittlicher Mensch aus.
Dieser Tag hat trotz meiner Befürchtungen viel Spaß gemacht. Wir nahmen uns die Zeit, die wir brauchten. Das war mir an dieser Stelle wichtig. Lange zuvor
hatten wir nicht mehr so konzentriert und ausgiebig zusammen gearbeitet. Wir bemerkten, dass wir in dieser Arbeitsform gut vorwärts kamen. Ohne Technik
und ohne Zeitdruck. Nur bewaffnet mit momentan 76 Seiten Manuskript, der eigenen Stimme, einer erträglichen Aufmerksamkeit und einem simplen
Kugelschreiber!
26.06.2008 Ich beschäftigte mich vor über einem dreiviertel Jahr mit der praktischen Umsetzung und Gestaltung eines Theater- beziehungsweise
Filmmanuskriptes. Die Fachbücher, die ich an diesen Tagen durchforstete, überzeugten und beeinflussten mich in unserer weiteren Bearbeitung. Eines davon
besonders. Deshalb überließ ich es Jörg mit der Bitte, er möge sich das zeitnah ansehen. Auf spätere Nachfragen, ob er in das Buch geschaut hätte, bekam ich
oft die Antwort: „...wann denn?....“. Nach über acht Monaten fand er die Zeit, sich dieser Literatur zu widmen und reagierte euphorisch darauf. Hier standen mit
einem Mal viele Antworten und Ansätze, die er am liebsten gleich und sofort umsetzen wollte. Ich hielt mich, als er mir das erzählte, mit meinen Reaktionen
zurück, denn das hätten wir lange zuvor bereits umsetzen können.
Jörg suchte eine weitere technische Möglichkeit, einiges zu vereinfachen. Das Libretto hatte mittlerweile einen Rahmen angenommen, der es uns ermöglichte
Veränderungen und Anmerkungen einfacher und übersichtlicher auszuarbeiten, aber von einem gängigen Standardwerk für Theaterproduktionen war es weit
entfernt. Jörg suchte so lange in den Weiten des Internets nach einem passenden Programm, bis er es mit Hilfe eines Bekannten fand. Es war praktisch, es war
kostenfrei und es das, was wir brauchten. Ich lehnte es auf Nachfrage ab, mich mit den Strukturen und technischen Möglichkeiten dieses Programmes zu
beschäftigen, so dass ich ihm gern diese Aufgabe überlassen werde, um das Manuskript förmlich zu bearbeiten. Jetzt haben wir keine Eile mehr, da die
inhaltlichen Überarbeitungen größtenteils handschriftlich folgen.
25.08.2008 Noch sind Jörg und ich dabei unser Manuskript zu bearbeiten. Wir hatten im Vorfeld verschiedene Inhalte und Weiterführungen aus den Augen
verloren. Aber das fällt uns erst jetzt auf, nachdem wir die Geschichte im Kontext lesen. Wir müssen nicht nur an der Textvorlage feilen, sondern auch ganze
Passagen erweitern und verändern. Das nimmt Zeit in Anspruch. Ich möchte mich nicht beklagen. Uns war vorher klar, dass fehlende Teile ergänzt werden
mussten.
Auf der anderen Seite bin ich froh, dass zwei Drittel des gesamten Textes hinter uns liegen. Noch einige Termine und die handschriftlichen Überarbeitungen
können in das Originalmanuskript eingefügt werden. In meinem letzten Urlaub schrieb ich noch einige Liedtexte, so dass wir nur wenige Textstellen bearbeiten
müssen.
Bei unserem vorletzten Telefonat unterhielten wir uns über die weitere Vorgehensweise. Ein Ende der schriftlichen Aktivitäten ist abzusehen und ich plane
bereits die nächsten. Ich erzählte von meinen Arbeiten zu einzelnen Musikstücken und von meiner Suche nach einem zentralen Thema, dass sich musikalisch
durch unser Musical ziehen müsse. Ich sprach davon, dass ich noch nicht wüsste, aus welchen Quellen dieses stammen sollte. Gegebenenfalls aus meinen
bisherigen Schnipseln, den fertig geschriebenen Stücken, ich etwas neu komponiere oder einer anderen Möglichkeit. Ich weiß es nicht.
Dieses Gespräch nahm Jörg zum Anlass, tagelang darüber nachzudenken. An unserem heutigen Schreibtermin, der keiner werden sollte, informierte er mich,
dass es längst mehrere zentrale Themen gäbe. Auf meinen Hinweis, dass ich mich nicht erinnern könne, einen solchen Auswahlprozess vorgenommen zu
haben, antwortete er, dass er seine 5 Musikstücke meint, an denen er all die Jahre gearbeitet hätte! Nicht schon wieder, dachte ich! Ich wies darauf hin, dass ich
20 Songs und mehr als 130 Ideen für das Musical schrieb und seine Musikstücke noch gar keine sind. Sofort fiel er ein weiteres Mal in sein altes
Verteidigungsmuster. Ja, er wüsste dass er keine Mainstream-Musik mache, aber DAS wäre ER! Selbst wenn alles nur konstruiert ist, wäre das seine Art Musik zu
machen... So ging es eine Stunde lang. Am Ende dieser Diskussion gestand er mir den wahren Grund. Sie ahnen es: Er sieht seine eigenen Arbeiten nicht
vertreten. Somit identifiziert er sich nicht mit dem Musical.